Mein Sohn ist 14 Jahre alt. Er denkt darüber nach, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Als seine Mutter bin ich unsicher. Zwar hat mir die Schule einen Brief vom Kantonsarzt geschickt, worin die Impfung empfohlen wird. Aber ich möchte mich doch zuerst mit unserem Kinderarzt besprechen. Herr Doktor Jan Bonhoeffer hat immerhin schon über 20 Jahre Berufserfahrung und ist auch noch Professor für Infektionen und Impfungen bei Kindern und Jugendlichen. Also gehe ich zu ihm.
Guten Tag, Herr Doktor Bonhoeffer. Ich bin heute wegen eines Briefes des Kantonsarztes hier. Die Schule meines 14-jährigen Sohnes hat ihn mir vor den Sommerferien geschickt. Darin steht, die Covid-19-Impfung sei speziell für Jugendliche empfohlen. Ich bin unsicher. Was raten Sie mir?
Ein Impfentscheid ist eine individuelle Entscheidung. Sie und ihr Sohn entscheiden selbst und eigenständig, ob das Verhältnis zwischen Risiko und Nutzen einer Impfung für Sie und Ihr Umfeld stimmt. Meine Rolle ist es, Ihnen mein Fachwissen für diese Entscheidung zur Verfügung zu stellen und Ihre Familie bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen.
Es tut mir leid, aber so frei fühle ich mich jetzt nicht dabei. Mein Sohn steht recht unter Druck aus seinem Kollegenkreis. Er hat Angst, nicht mehr ins Kino gehen zu können und so.
In diesem Punkt muss Klarheit sein: Warum möchte sich Ihr Sohn impfen lassen? Gerade bei der Covid-Impfung gibt es zwei völlig unterschiedliche Motivationen: Schutz vor Krankheit oder Erhalt der Freiheit. Als Infektiologe kann ich Ihnen sagen: Es gibt keine Impfung für Freiheit. Ich finde es gefährlich, wenn wir die Frage der Freiheit mit der Frage der Impfung vermischen. Wir können gerne über beide Fragen sprechen – aber lieber getrennt.
Würde ich gerne, aber meinem Sohn schlagen die Einschränkungen ohne Impfung auf die Psyche. Das belastet dann auch die Gesundheit!
Kann ich sehr gut verstehen. Der Druck ist hoch – von Gesellschaft, Politik und Altersgenossen. Als Mutter sind Sie nun gefragt, Ihrem Sohn bei der Entscheidung zu impfen oder nicht zu impfen beizustehen. Für mich sind Impfungen da, um Krankheiten zu verhindern – und zwar in erster Linie für Menschen, die direkt von der Krankheit betroffen sind.
Gehört da mein Sohn dazu? Er ist ja gesund und hat keine bekannten Vorerkrankungen.
Dann muss die Frage gestellt werden, wenn er den schützen will. Sich selbst? Mitmenschen? Grosseltern?
Das hat er gesagt! Er macht sich Sorgen um seine Grosseltern. Er will auch wieder ohne Angst mit ihnen Kontakt haben.
Es ist bewundernswert, dass Ihr Sohn ein Risiko in Kauf nehmen will, um andere zu schützen. Eine reife Haltung! Wir können ihm Infos geben, die ihn in dieser Haltung stärken. Allerdings sollte er wissen, dass sich seine Grosseltern durch die Impfung vor einem schweren Verlauf von COVID bereits selbst schützen. Dafür ist die Covid-Impfung ja da.
Ja, die Grosseltern sind ja alle schon geimpft.
Sehen Sie, dann bietet Ihr Sohn den Grosseltern keinen oder nur einen fraglichen zusätzlichen Schutz, wenn er sich selbst impfen lässt. Wenn er krank ist, bleibt er eh Zuhause und wenn er gesund ist, ist die Ansteckungsgefahr durch ihn minim. Er selbst hat auch nur ein winzig kleines Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19.
Also besteht doch ein Restrisiko?
Er wäre einer von etwa 100'000 Jugendlichen, die wir impfen müssten, um einen einzigen Todesfall zu verhindern. Der einzige für mich nachvollziehbare Grund zur Impfung wäre, wenn ein enges Familienmitglied den Impfschutz benötigen würde, sich selbst aber wegen einer Vorerkrankung nicht impfen lassen darf. Dann scheint es sinnvoll, die engen Kontakte zu impfen, um eine Art schützenden Kokon rund um den Risikopatienten zu bilden.
Aber warum zögern wir denn überhaupt? Wenn die Impfung vielleicht nicht viel nutzt, dann schadet sie ja auch nicht.
Das wissen wir eben noch nicht für Jugendliche. Wir wissen erst, dass vor allem bei älteren geimpften Erwachsenen das Risiko für schwere Nebenwirkungen klein ist. Wir wissen auch, dass viele Menschen nach der Impfung vorübergehend Entzündungserscheinungen haben. Der Körper setzt sich mit dieser kontrollierten Infektion auseinander, was er ja auch tun soll. Für geimpfte Jugendlichen stimmen die bisherigen Signale zuversichtlich, dass die Impfung gut verträglich ist. Uns fehlen aber noch die verlässlichen Daten, die uns erlauben, das Risiko einer Nebenwirkung bei Geimpften mit Nicht-geimpften zu vergleichen.
Und wann liegen diese Zahlen vor?
Vielleicht erhalten wir bis Ende des Jahres erste Zahlen. Ich kann gut nachvollziehen, wenn Jugendliche und deren Familien bis dahin zurückhaltend sein möchten – und diese Jugendlichen gibt es auch. Deshalb habe auch ich bislang Mühe, ihm die Impfung zu empfehlen, ohne wirklich zu wissen, wie sicher die Impfung für Ihn ist. Bei begrenztem Nutzen wüsste ich gerne, dass sie sicher ist.
Nun gut, aber der Kantonsarzt höchstpersönlich empfiehlt die Impfung speziell für Jugendliche!
Diese Empfehlungen entsprechen denjenigen des Bundesamtes für Gesundheit und das ist gut. In der Schweiz sind es auch aus gutem Grund Empfehlungen und keine Vorschriften. Sie können das Gespräch in der Familie nicht ersetzen. Letztlich ist es eine informierte Entscheidung, die die Familie mit den Jugendlichen zusammen treffen darf.
Da ist Streit schon fast vorprogrammiert, wenn sich mein Sohn und ich nicht einer Meinung sind. Wie kann ich das bloss angehen!
Verstehen Sie, was ihn wirklich zur Impfung motiviert? Zeigen Sie ihm dann mögliche Alternativen auf – zum Beispiel einen negativen Test vorlegen, wenn er in ein Lager oder zu den Grosseltern möchte. Solche Bestätigungen von aussen können helfen. Oder Sie nutzen auch diese Gelegenheit, ihn in seiner menschlichen Entwicklung zu unterstützen! Vielleicht besprechen Sie mit ihm die Frage, wie er ohne externe Mittel mit Freiheit und Risiko umgeht. Was wäre etwa, wenn er seinen Mitmenschen wirklich etwas zuleide tun würde – egal ob mit COVID oder mit etwas anderem.
Da sagen Sie etwas: Er hat kürzlich mit Pfeil und Bogen dem kleinen Bruder eine Schramme am Arm verpasst!
Ja, vielleicht helfen solche Beispiele, ein Verständnis für Leben und Risiko zu erlangen. Wie gehen wir um mit Risiko, mit Schuld? Und wie können wir trotzdem leben?
Oh, das sind aber dann recht tiefgründige Gespräche über das Menschsein!
Ja, und solche Fragen lassen sich nun mal nicht wegimpfen.
Danke, Herr Bonhoeffer, Sie haben mir wirklich sehr geholfen.